Читать книгу Handbuch der Poetik, Band 1. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Dichtkunst онлайн

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Mit Evidenz ergibt sich aus diesem Beispiel, bis zu welchem Grade es als ein Fehlgriff zu bezeichnen ist, welcher in der Praxis notwendig in die Irre führen muss, wenn man der Poesie generell als ihren Gegenstand "Handlungen" zuweist.

Mit Evidenz zeigt sich aber auch daran, in welchem Sinne Lessings Gesetz seine ganz unbestreitbare Richtigkeit hat; immer bleibt das Mittel der Dichtung die Bezeichnung von Bewegungen, Vorgängen, ihr Element ist das Sukzessive; immer das Mittel der Malerei die Darstellung von Körpern, Situationen, ihr Element ist das Koexistente; die Gegenstände können beiden Künsten gemeinsam sein.

Mit dem Takte des Genies hat Goethe dies erkannt, und in dieser Beschränkung, aber eben auch nur so weit, lässt sich die Befolgung des Lessingschen Gesetzes durch die gesamte Goethesche Dichtung als eines der wirksamsten Mittel seiner Kunst nachweisen.

Jeden Teil des koexistierenden Gesamtbildes, zu welchem der Maler eine gesonderte Gruppe von Körpern in sorgfältigst ausgewählter Haltung zueinander und in fein erwogener Beleuchtung gebraucht, zaubert er in souveräner Beherrschung der Sprachmittel durch die lebhafteste Bezeichnung des Bewegungsvorganges, welchem der eine Moment, den das Bild allein aufzufassen vermag, als Mittelpunkt angehört, vor unser geistiges Auge; ja, wo eine solche Bewegung fehlt, weiß er die ruhende Situation dennoch als das Resultat einer bewussten Energie des beseelten, tätigen Waltens, als welches ihm überall die Naturerscheinungen entgegentreten, aufzufassen und darzustellen. So, wenn es heißt: "Wie ist Natur so hold und gut, die mich am Busen hält;" "weiche Nebel trinken rings die türmende Ferne;" oder in "Willkommen und Abschied:" "Der Abend wiegte schon die Erde, und an den Bergen hing die Nacht;" "Schon stand im Nebelkleid die Eiche Ein aufgetürmter Riese da, Wo Finsternis aus dem Gesträuche Mit hundert schwarzen Augen sah;" ebenso schon in dem ganz frühen Jugendliede "Die schöne Nacht:" "Luna bricht durch Busch und Eichen, Zephyr meldet ihren Lauf, Und die Birken streun mit Neigen Ihr den süßten Weihrauch auf." Ein kontinuierliches Beispiel und ein wahres Kabinettstück dieser Behandlung ist "Amor als Landschaftsmaler", wo das erquickende Gemälde einer reichen Landschaft, wie sie, da eben die Frühnebel weichen, in dem frischen Tau des köstlichen Sommermorgens vor dem entzückten Auge allmählich sich enthüllt, mit virtuoser Kunst als die sukzessiv entstehende Malerei des Liebesgottes auf dem ausgespannten grauen Nebeltuch durch eine Reihe von Bewegungsvorgängen zur sinnlichsten Anschauung und zur lebhaftesten Wirkung auf die Empfindung gebracht wird.

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