Читать книгу Handbuch der Poetik, Band 1. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Dichtkunst онлайн

50 страница из 101

Eine einzige Seelenstimmung ist nachgeahmt, der Streit der Empfindungen ist nur diesem Zwecke dienstbar: die Tiefe und Freudigkeit des Goetheschen Naturgefühls, die glühende Liebe, mit der er jede ihrer Erscheinungen als die Äußerung eines beseelten Wesens sympathisch empfängt und jubelnd wiederklingen lässt, — sie wird nur gehoben durch die Kontrastierung mit der Befangenheit jener süßen Herzensirrungen, aus denen er mit entzücktem Aufschwunge zu der Gesundheit und Kraftfülle seines universellen Empfindens sich emporhebt.

Analysieren wir die Mittel genauer, mit welchen der Dichter die überwältigend stark wirkende Nachahmung dieses "Ethos" bewirkt hat, so lassen sich deren zwei sehr deutlich unterscheiden. Lassen wir die vier Eingangszeilen fort, die weiter nichts als einen Ausruf enthalten, in welchem die Grundtonart der Stimmung angegeben ist, und scheiden die vier Zeilen der mittleren Strophe aus, so behalten wir in den verbleibenden zwölf Zeilen ein bloßes Landschaftsbild übrig, dessen Haupt- und Detailzüge mit der größten Sorgfalt aus lauter einzelnen Bewegungsvorgängen zusammengefügt sind und zwar zu einem koexistierenden Ganzen, einem einzigen Totalbilde, in Wahrheit der ζωγραφία λαλοῦσα — dem "redenden Gemälde" — des Simonides. Nur müsste der Maler, der sich vermessen wollte "das Goethesche Gedicht gemalt" zu haben, es verstehen in seine Landschaft diejenige "Kraft" zu zaubern, dass sie unwiderstehlich und überwältigend mit demselben "Ethos" uns unmittelbar erfüllte, welches zu erzeugen der Dichter nun den anderen Teil seines Gedichtes hat zu Hilfe nehmen müssen. Der frische Hauch des Morgens müsste uns aus seinen Farben und Konturen entgegenwehen, dass wir in freier Welt an dem holden Busen der Natur uns fühlten! Mit so siegender Gewalt müsste das Entzücken an der verschwenderischen Fülle ihrer Schönheit, an der unvergänglich erfrischenden Kraft ihrer ewigen Jugend uns ergreifen, dass wir ein "Weg, du Traum, so gold du bist" allen lediglich individuellen und eben darum beengenden Empfindungen zurufen, die sich diesem Entzücken beeinträchtigend in den Weg stellen, und mögen es die uns teuersten sein! Dann wäre es dem Maler gelungen das Ethos der Naturwirkung nachahmend hervorzubringen; der Dichter musste den direkten Ausdruck desselben seinem Bilde hinzufügen und ebenso von der überwiegenden Gewalt des Naturgefühls über die stärkste individuelle Regung konnte er nur durch die direkte Vorführung jenes Streites uns überzeugen.

Правообладателям