Читать книгу Flügel auf! онлайн

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Aber es war nicht allein Trotz, es war auch ein ästhetisches Wohlbehagen an seiner neuen Umgebung. Und dann hatte ihm die Wirtin von Anfang an so gefallen. Ein zartes altes Frauchen, nicht größer als ein vierzehnjähriges Kind, mit einem feinen bleichen Gesichtchen, besonders der Mund mit den ein wenig herabgezogenen Winkeln war so unendlich fein. Und sie hatte etwas Anmutiges in den Bewegungen und besonders in der Art, den Kopf hinten über zu legen, wenn sie mit ihm sprach, das ihm hier zu Lande noch nicht vorgekommen war. In Deutschland, ja, da kannte er so feine alte Frauen, nur hatten die etwas Starres, Formelles, nicht diese vogelartige graziöse Hurtigkeit, die an ein junges Mädchen erinnerte, diese anspruchslose Freundlichkeit, wenn er ihr auf der Treppe oder im Gang begegnete, diesen ganz zarten, wehmütigen Duft, wie ihn eine welke Blume aushaucht, die einmal sehr lieblich, sehr schön gewesen. Und dann war es so wonnig still um ihn herum. Außer der Wirtin und der langgedienten, bäuerlich breiten Magd war niemand im ganzen Stock, und von unten störte kein ungeschickter Laut seine Muße. Die drei kleinen Fenster gingen ins Grüne; ehemals hatte der schöne baumreiche Garten mit den hohen Thuja- und Zedernwipfeln wohl zu diesem Hause gehört, bis es herunterkam und stockweise vermietet wurde. Und über den noch märzkahlen Obstbaumkronen hinweg sah man den Kranz der Alpenhäupter, vom Glärnisch bis zum Uri-Rotstock, ganz hoch am Horizont, dass es ihm immer vorkam, als sähe er eine Landschaft von Dürer im drückend engen niederen Fensterrahmen. Er setzte sich auch hin, das abzuzeichnen, aber dann, unwillig über sich selbst, als es ihm nicht gelang, beschloss er, all’ diese Tagedieberei aufzugeben und die seltene Ruhe um ihn her, einzig zur Arbeit aufs Examen zu benutzen. War er doch ohnehin schon sehr alt geworden, fast dreiundzwanzig Jahr, über all’ seinem zersplitterten Interesse, ohne nur einmal so viel wie das zweite Propädeutikum gemacht zu haben. Es gab kühle Mahnbriefe von zu Haus, ironische Erkundigungen nach seinem „neuesten Steckenpferd“, wie der Papa Mediziner seine Beschäftigung mit Politik und Literatur nannte, und es kam ihn allmählich hart an, die Widersprüche zwischen seinem bloß genießenden Leben und der sozialen Richtung, die er mit so viel heftigem Enthusiasmus vertrat, glatt hinunterzuschlucken. Die meisten der „Genossen“ kannten solche Skrupel nicht; sie lebten wie die Lilien auf dem Felde von den Monatswechseln der Papas, immer unter der Verkündigung des Prinzips, dass Arbeit die Pflicht aller sei, und dass nur die Ausübung der allgemeinen Arbeitspflicht die Gesellschaft retten könne. Aber er wollte nicht sein wie die anderen, und er ärgerte sich, ärgerte sich, dass er sich füttern lassen musste wie ein Schulknabe. Füttern und schelten! Wie viele Jahre das nun schon so ging, es war zum Verzweifeln! Und bis wir den Zukunftsstaat haben, wo jeder sein Leben verdient, einfach dadurch, dass er täglich drei oder vier Stunden an einer Maschine steht, kann man alt und grau werden. Da blieb schließlich nichts übrig, als sich ans Studium zu halten – es war ihm schon wie eine wohltönende Vorbedeutung, dass die neue Wirtin ihn von Anfang „Herr Doktor“ geheißen. Er sagte nicht nein, obwohl er rot wurde; schade, dass sein Papa und der ebenso sarkastische Schwager nicht hören konnten, mit welcher Achtung man ihn hier behandelte! die hätten sich ein Beispiel nehmen dürfen.


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