Читать книгу Das Rennen gegen die Stasi. Die Geschichte des Radrennfahrers Dieter Wiedemann онлайн

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Der Wertekanon des Sozialismus traf kaum Unterscheidungen zwischen Arbeit und Freizeit. Jeder Bürger der DDR stand praktisch immer und überall in der Pflicht, seinen Beitrag zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu leisten. Folglich sah man in der »Freizeit« nicht wie in den bourgeoisen kapitalistischen Volkswirtschaften eine eigenständige Sphäre, sondern vielmehr einen weiteren Faktor, der zum Gelingen des großen Ganzen beitragen sollte. Die Partei animierte die Bevölkerung zur regelmäßigen Körperertüchtigung (was Walter Ulbricht später die berühmte Losung »Jedermann an jedem Ort – einmal in der Woche Sport« formulieren ließ), aber organisierte Sportaktivitäten sollten nicht allein einen positiven Einfluss auf die Gesundheit und das physische Wohlbefinden der Menschen haben.

Auch Sport zu schauen, war in der Perspektive des Kommunismus nicht zwangsläufig eine passive, negativ besetzte Freizeitbeschäftigung. Die Zuschauerrolle war auch nichts, was jemand einfach als Individuum einnahm. Vielmehr erforderte sie aktive Beteiligung und soziale Verantwortung. Wenn also nun ein Mal im Jahr die Friedensfahrt durch ostdeutsche Städte und Dörfer rollte, wurde von der örtlichen Bevölkerung erwartet, dass sie dieses Ereignis entsprechend würdigte. Schon Wochen vorher organisierten Schulen Veranstaltungen rund um die Friedensfahrt, der komplette Lehrplan wurde in Vorfreude auf den großen Tag umgestaltet. Den Schülern wurden nicht nur die Grundzüge des Radsports und der Renntaktiken beigebracht, auch die symbolische Bedeutung des Rennens, die Tatsache, dass es hundert unterschiedliche Radrennfahrer aus Ländern rund um den Erdball zusammenbrachte, wurde als Unterrichtsthema begeistert aufgegriffen. Die Lehrer sollten insbesondere den kommunistischen Kontext zur Sprache bringen, in dem die Friedensfahrt stand, und den Kindern vermitteln, dass eine solche Veranstaltung nur im Sozialismus überhaupt denkbar sei. Gern wurden bei dieser Gelegenheit Vergleiche mit der Tour de France gezogen, einem Rennen, das ganz unter dem Diktat kommerzieller Interessen stand. Die Tour, so Botschaft, sei nichts anderes als ein organisierter Verrat der sportlichen Ideale – mit all der Reklame und mit Fahrern, die allein des Geldes wegen antraten.

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