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Das Getüm

Durch die offene Balkontür, vor der Wotanek am Tisch sitzt, sehe ich am Geländer einen zusammengeklappten, gelben Plastikliegestuhl. Wotanek massiert mit dem kleinen Finger der linken Hand seinen abgebrochenen Schneidezahn mit einer Inbrunst, die vermuten lässt, dass er sich von dieser Massage eine Wirkung erhofft. Ich kenne Wotanek schon lange; die zusammengekrümmte Haltung ist für ihn typisch. Als er ein kleiner Springumsquartier war, wollte niemand mit ihm spielen, da er den Ball immer fallen ließ. «Bewe­gungs­trottel» nannte ihn, später, seine Gattin Helga, eine wahre Eisheilige; am Hochzeitstag küsste sie ihn auf die Nasenspitze, worauf diese erfror. Helga kenne ich erst seit kurzem, weiß also nichts über ihr früheres Leben; sie ist eine großgewachsene Frau mit behaarten Beinen, die stets weiße Turnschuhe trägt.

Wotanek streikte als Kind mit einer Ausdauer, die erstaunlich ist; seine Absage an die Spielregeln unserer Welt bewirk­te, dass sogar seine Gesichtsmuskeln den Dienst versagten; so kam es, dass er gleichsam zugemauert, unerkannt, ganz im Verborgenen lebte. Ich vermute, diese Daseinsart entwickelte sich aus einer außerordentlichen Empfindsamkeit. Er war Heimzögling und hatte seinen Vater nicht gekannt, einen Apotheker, der in seiner Freizeit kilometerlange Papierstreifen mit Lösungsversuchen eines mathematischen Pro­blems vollschrieb und schließlich, sich den Misserfolg seiner Bemühungen zu Herzen nehmend, Selbstmord verübte. Die Mutter war schon vorher aus Gram über diesen Mann gestorben. Da Wotanek den Tod seiner Eltern nicht beweinen konnte, trauerte er heimlich beim Anblick kahler Äste, die der Wind wie Teile eines zerrissenen Netzes vor dem Himmel schwang – um nichts zu fangen; gab es eine Beute außer dem kleinen Wotanek? Auch die immerwährende Melancholie der Katze, die zum Heim gehörte, verstörte ihn, und es gab niemanden, den er an seinen Seelenschmerzen teilneh­men ließ.

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