Читать книгу Die Brille des Nissim Nachtgeist. Roman. Die Emigrantenpension Comi in Zürich 1921-1942 онлайн

28 страница из 32

Cherili zog mich zur Rigi-Apotheke hinunter. Ich fürchtete mich zurückzukehren, fürchtete mich vor einem neuen Anfall, solange ich im Salon war. Welche Anstrengung, das wilde Schütteln zu übersehen, Cherili zog mich im Zickzack hin und her. Die Dackelohren hingen wie Puppenstubenportieren an dem schnuppernden Kopf und halfen mit, die Zeichen der Sympathie ausfindig zu machen, die ein Casanova auf der feuchten Strasse hinterlassen hatte.

Olga hatte erfahren, dass die dunkle Frau aus Hamburg auf schreckliche Weise ihren Mann verloren hat: «Alles Unglück kommt jetzt über die Juden.» Der Mann war seit längerer Zeit verhaftet gewesen, eines Tages aber habe sie die Nachricht erhalten, dass er entlassen werde. Als sie ihren Mann abholen wollte, erhielt sie den Bescheid, dass er tot sei. Gestorben an Herzschlag und bereits begraben.

*

Wer war ihr Mann gewesen – ich hatte nicht den Mut, danach zu fragen. Ich musste an den wütenden Ausspruch meines Vaters denken: «Sie verhöhnen in Rosa Luxemburg die ­Jüdin und meinen die Revolutionärin …» – «Weil wir Juden sind» hatte auch Ruth Havemann gesagt, und ich konnte beim Abschied nicht die befreiende Wut aufbringen und schämte mich nur. Ahnte ich, dass kein Mitleid umfassend genug war, um einen Menschen trösten zu können, der verfolgt wurde wegen seiner Geburt? Und nicht weil er dachte, was der Verfolger zu denken verboten hatte? Lag das Mitleid deshalb wie eine Lähmung auch zwischen dem Bürger des Gastlandes und dem Flüchtling, dessen Gesichtsausdruck sagte: verfolgt, weil geboren? War Mitleid die Furcht, das Unglück könnte auch über den Mitleidigen kommen, zog das Unglück des anderen das eigene Unglück an? Und erklärte diese Angst erst die Entlastung, die alle empfanden, wenn ein Flüchtling weiterreisen konnte?

Правообладателям