Читать книгу Der Seelenwexler. Roman онлайн

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Seine Sprachimitationsspielchen hatten den Klosterschüler gelehrt, dass er über eine besondere Art von Gedächtnis verfügte. Er wusste, dass es Leute mit fotografischem Gedächtnis gab. Er hatte kein fotografisches, er hatte ein tonträgerartiges Gedächtnis: Was er einmal gehört hatte, das konnte er – vorausgesetzt, es interessierte oder beeindruckte ihn – jederzeit eins zu eins wiedergeben. Als Schüler hatte er jede Menge Bücher verschlungen, aber Gelesenes blieb ihm nicht besser in Erinnerung als andern. Gehörtes jedoch konnte er mit fast untrüglicher Sicherheit abrufen. Seine guten Noten verdankte der Klosterschüler Gion-Gieri Caduff weniger einem besonders tiefen Verständnis der Dinge als dem Umstand, dass es den meisten Lehrern gefiel, wenn sie zitiert wurden. Und Lehrer zitieren, das konnte er. Es hatte damit begonnen, dass er der Kindergartentante ein rätoromanisches Verschen nachplapperte oder als Erstklässler ein Lied trällerte, kaum hatte er es ein-, zweimal gehört. Gedichte, Reden und andere gehörte Texte konnte er auswendig hersagen wie kein anderer. Und zwar in allen möglichen Sprachen, von Deutsch über Latein bis zu Englisch und Spanisch. Mathematische, physikalische und chemische Formeln brauchte er nicht zu verstehen oder herzuleiten, er konnte sie, einmal gehört, einem Lied gleich rezitieren und mit etwas Glück meistens richtig anwenden. Den Sechser in der Geografie-Matura holte er sich, weil beim Stichwort Eiszeit in seinem inneren Ohr «Günz-Mindel-Riss-und-Würm» erklang, wie ein alter Schlager, mit allen zeitlichen und örtlichen Attributen.

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