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Im Alter von neun Jahren war er infiziert worden. Durch ein Buch, das er vom Grossvater geschenkt bekommen hatte. Hingerissen hatte Lukas die Bilder betrachtet, Schwarzweissfotografien von Rundhütten und Lehmbauten, Bilder von Palmen, Kamelen und Krokodilen. Und von schwarzen Menschen, schwarzen Kindern. Diese Gesichter! Die grossen schwarzen Augen. Die schwarze Haut. Die weissen Zähne. Die grossen, lachenden Münder. Nichts konnte ihn mehr faszinieren und mehr anziehen als diese Gesichter und die nackten oder halbnackten dunkelhäutigen Körper. Er entwickelte eine unbändige Sehnsucht nach dem Kontinent, auf dem solche Menschen lebten. Es war die Zeit, als man Schwarzer statt Neger zu sagen begann, aber davon wusste Lukas nichts. Für ihn war Neger der Inbegriff eines wundersamen Wesens aus einer fremden, zauberhaften Welt. Wie Indianer. Wie Krieger oder Jäger. Nur noch abenteuerlicher: Neger!

Endgültig war es um ihn geschehen, als er, zehnjährig, in den Sommerferien Khalid und Driss begegnete, zwei Buben aus Afrika. Lukas verbrachte die Sommerferien wie immer im Ferienheim Büel. Er traute seinen Augen kaum, als eines Abends ein grosser Citroën vorfuhr, dem eine Negerfamilie entstieg. Das heisst, der Vater war ein Neger, die Mutter sah ganz gewöhnlich aus. Sie redeten in einer fremden Sprache und luden zwei Buben aus, einen Neger und einen halben. Der ältere, Khalid, war fast schwarz und hätte Grossvaters Buch entsprungen sein können. Er war etwa gleich alt und gleich gross wie Lukas. Der jüngere, Driss, war bloss kaffeebraun, ein feingliedriges Bürschchen, nach Lukas’ Schätzung ein Zweit- oder Drittklässler, Khalid wie er ein Viertklässler. Lukas war fasziniert, vor allem von Khalid. Da die meisten andern Kinder vor ihnen fremdelten, packte Lukas seine Chance. Er wollte Khalid partout zum Freund haben. Tante Heidi fragte ihn, ob er im gleichen Zimmer schlafen wolle wie die beiden Buben aus Marokko. Um mit ihnen in Kontakt zu kommen, brach er eine Kissenschlacht vom Zaun, auf die sich die beiden lachend einliessen. So lange, bis Tante Heidi auftauchte und für Ruhe sorgte. In der folgenden Nacht blieb die Kissenschlacht aus, dafür führte der gelenkige Driss, nackt bis auf die weissen Unterhosen, vor dem Lichterlöschen einen afrikanischen Tanz auf. Khalid schlug den Takt. Er klatschte in die Hände, trommelte auf den Boden und auf seine schwarzen Schenkel. Lukas war hingerissen. Jeden Samstag wurde gebadet, die Kinder wurden zu zweit in die Badewanne gestellt und von Tante Heidi abgeschrubbt. Nach dem Schrubben war Plantschen im Schaumbad erlaubt. Lukas drängte sich vor, um mit Khalid in die Badewanne gestellt und geschrubbt zu werden. Er konnte sich an dem nackten schwarzen Körper kaum sattsehen. Lachend spritzten sie sich gegenseitig an. Lukas setzte Khalid eine Schaumkrone auf. Sie standen auf und guckten zusammen in den beschlagenen Spiegel. Lukas rieb mit der Hand ein Fenster und sah das schöne, schwarze Negergesicht, breit lachend unter der weissen Haube. Daneben sein eigenes, beschämend bleich, im Dampf und vor Bedeutungslosigkeit verschwindend. Sie setzten sich wieder in die Wanne, schubsten sich herum und versuchten, sich gegenseitig unter Wasser zu drücken. Lukas konnte es kaum fassen: Er hatte einen Neger zum Freund! Dass es sich bei den Brüdern um Söhne aus wohlhabendem Haus handeln musste und überdies um Städter, nicht um Wilde, darüber machte er sich keine Gedanken. Für ihn waren es zwei Buben aus Afrika, zwei echte Neger. Längst hatte Khalid seine Avancen erwidert. Er setzte sich bei Tisch neben ihn und kletterte nach dem Essen mit ihm in die Baumhütte hinauf. Die drei Wochen Sommerferien vergingen wie im Flug. Mit einem einzigen Satz verabschiedeten sich die zwei Freunde: «Tu es mon ami», hatte Lukas zum Schluss sagen können. Während Wochen, wenn nicht Monaten, wurde er von einem grenzenlosen Heimweh nach Khalid geplagt. Sie hatten nicht daran gedacht, Adressen auszutauschen, und so hoffte Lukas einfach, dass Khalid irgendwann auf wundersame Weise wieder auftauchen würde.

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