Читать книгу Handbuch der Poetik, Band 1. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Dichtkunst онлайн

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Über allen Gipfeln ist Ruh,

In allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch;

Die Vögelein schweigen im Walde.

Warte nur, bald ruhest du auch.


Durch die sinnliche Vorstellung des schweigenden Waldes, zugleich freilich durch die wunderbare Macht des rhythmischen Tonfalles, ist hier in unübertrefflicher Weise der Seelenzustand (das Ethos) still, fast heitergefasster Ergebung in den Todesgedanken nachgeahmt und zwar in einer Freundlichkeit der Stimmung und in einem Reichtum der Nuancen — die durch die Analogie des wunderschönen Bildes, das an alle Sinne zugleich sich wendet, mit Eins gegeben ist — wie sie keine abstrakte Schilderung zu wecken vermöchte. Aber wo ist hier ein Moment der Veränderung oder Folge? Nicht einmal in dem angewandten Bilde! Man müsste denn die "Folge" und damit die "Handlung" darin finden, dass auf die Schilderung des koexistenten Bildes die mit dem Anblick desselben sich verknüpfende Stimmung der Zeit nach folgend zur Erwähnung gelangt; aber dann wäre in allen derartigen lyrischen Gedichten ein und dieselbe Handlung, — ein Gedanke, den man Lessing nicht zutrauen darf.

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