Читать книгу Flügel auf! онлайн
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Als er längere Zeit ohne Erwiderung blieb – sein erster Blick, wenn er nach einem Ausgang sein Zimmer betrat, galt immer dem ersehnten Briefchen –, fing er an, kühl und skeptisch zu werden. Es hat sich da Jemand einen Witz mit ihm erlaubt, aber er ist nicht der Geck, der sich nasführen lässt. Seine Doktorin Röslin, die ihm jetzt zuweilen Harfe vorspielte und mit einer kleinen, etwas zitternden Stimme italienische Liedchen dazu sang, war eigentlich viel poetischer, so als Figur betrachtet – diese preziöse und kapriziöse Unbekannte stand doch ganz in der Luft. Lieber Gott, was für ein Leben die alte Dame geführt hatte! Sie erzählte ihm, wie das mit dem Bräutigam gewesen war. Der Vater hatte sie verlobt, sie kannte ihn wenig, aber man sagte ihr, dass er sehr zart und schwächlich sei und sterben würde, wenn sie ihr Jawort nicht gäbe. Da war sie schnell bereit gewesen und hatte ihn lieb gewonnen; es hieß, ihr heiterer Einfluss werde ihn gesund machen. Aber eben, als alle die besten Hoffnungen hegten, hatte er die furchtbaren Anfälle bekommen, das erste Mal vor einem Gartenfest, das dem Brautpaar zu Ehren veranstaltet wurde. Man fand ihn nach langem Warten besinnungslos und blutend in seinem Ankleidezimmer. Der Arzt schob die Heirat hinaus, der Vater des Unglücklichen nahm ihr das Versprechen ab, zu warten, bis sein Sohn gesund sei. Jede Aufregung – und was hätte ihn mehr aufregen können als die Untreue des geliebten Mädchens – konnte verhängnisvoll werden. Und so hatte sie denn dreißig Jahre gewartet. Als sie getraut wurden, war er überhaupt kein zurechnungsfähiger Mensch mehr, aber er streckte noch immer die Arme nach ihr aus. Ihren Namen hatte er vergessen, aber ihre Gegenwart beruhigte ihn besser als ein Schlafmittel. In den letzten zehn Jahren seines armes Daseins war sie seine Pflegerin gewesen, dann hatte sie noch weitere fünf Jahre mit seinem Vater hausgehalten, der ganz vereinsamt und beraubt mit eigensinniger Liebe an ihr gehangen. Iversen konnte nicht herausbringen, ob sie es empfand, dass man sie aufgeopfert habe; sie erzählte alles wie ein zwar trauriges, aber doch unabänderliches Schicksal. Er wollte ihr sagen: eine neue Zeit ist angebrochen, wir Jungen finden das, was du erzählst, lächerlich, fast empörend, und jedenfalls unnatürlich. Er brachte es nicht über die Zunge; es half ja nicht mehr. Und etwas wehmütig Hübsches haben sie unleugbar, diese efeuumsponnenen romantischen Ruinen aus einer zahmeren Zeit. Halb neugierig halb bewundernd steht man davor und sucht nach einem Zusammenhang dieser Erscheinungen mit der Gegenwart, findet keine, zuckt die Achseln und – geht. Aber manchmal, im Traum, oder wenn man nervös, so recht drunten ist, fällt einem so ein Ruhefleck wieder ein, und man kann sogar Sehnsucht danach empfinden, eine halbe Stunde lang oder gar noch länger. Man braucht sich deshalb nicht zu schämen, das kommt bei den modernsten Menschen vor!