Читать книгу Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991 онлайн

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Bei der Unterredung mit Hortenses Vater erfährt Jürg, daß er in Wahrheit ein adoptiertes, uneheliches Kind ist. Die leibliche Mutter sei Kinderfräulein im Gut des Obersts, der Vater ein Metzgerbursche gewesen. Jürg bricht zusammen. Er erkennt: »Nicht alles Mögliche ist uns möglich, wie es der Jüngling noch meint. Schon vor der Geburt ist uns das meiste genommen, verborgen, zerbrochen, verschüttet.«230

Das sind deutliche Zurücknahmen der Positionen des jungen Jürg Reinhart, zugleich kritische Zugewinne an Einsicht in die Denkungsart und den sozialen »Geruchssinn« der guten Gesellschaft. Alle Varianten sind nun durchgespielt, und alle Varianten sind gescheitert – auch die, die der frischgebackene Architekt, Ehemann und

Schriftsteller gerade selber zu leben versucht!

Jürg Reinhart verfällt dem Wahnsinn. Im Irrenhaus lernt er den Gärtnerberuf und arbeitet, wieder genesen, im vierten Teil des Romans unter dem Namen Anton als Gärtner. Er ist weise geworden, die Kinder lieben ihn. Er erinnert an Voltaires Altersmaxime »Il faut cultiver son jardin« aus dem Candide. In einer bedeutungsschwangeren Gewitternacht treffen Hortense und Anton zufällig aufeinander. Doch man findet sich nicht mehr im nächtlichen Gespräch. Anton ist verbittert: »Als bankrotter Künstler, dem eines Tages der Boden unter den Füßen versank, hatte er ein Menschtum, das sich lohnt, einmal im Bürgertum gesucht; der Bürger glaubt ja … an seine höhere Art, seine Führerschaft, solange sie ihm dient, seine behaglichen Vorrechte zu schützen; glaubt er auch da, wo er um seiner höheren Art nicht auf einem ledernen Polster, sondern auf glühenden Nägeln sitzen müßte?«231 Anton spricht als Verdacht aus, was Frisch Jahre später als Grund für seinen Bruch mit der Bürgergesellschaft angeben wird: »Ich habe bemerkt, daß ich als Hinzugekommener die Sache viel ernster nahm, als die anderen, die gar nicht dahinter standen.«232 Diese Koinzidenz ist interessant, zeigt sie doch, daß Frisch nicht ›naiv‹ in die gutbürgerliche Gesellschaft eingetreten und erst im nachhinein, mit zunehmender Erfahrung, kritisch geworden ist. Noch vermied er radikale Schlüsse. Noch war er Bürger und wollte Bürger bleiben. Also macht er aus Antons Kritik an der Gesellschaft eine biologistische Theorie im Trend der Zeit233 : Es gibt »nur drei Wege für jeden Menschen«, und die sind durch Abstammung vorbestimmt. Weder gesellschaftliche noch individuelle Bedingungen können daran etwas ändern. Den ersten Weg beschreiten die »Gestalter des Lebens«. Sie sprengen alle Fesseln der Konvention und geben sich selbst ihren Lebenssinn. Der zweite Weg ist der Weg der »Erhalter des Lebens«. Sie sind »die Gesunden«, sie leben in »der bürgerlichen Ehe«. Weg drei ist der Leidensweg des genetischen Menschenschrotts, der »Halblinge«: »Man hat sein Leben so versehrt empfangen, daß man sich selber damit auszulöschen hat. Eine weitere Möglichkeit sehe ich nicht …«234 Anton erkennt sich als »Halbling«235 und bringt sich um. Was er nicht weiß: Yvonnes Sohn, Hanswalter, ist sein eigenes Kind, der »Halbling« hat sich entgegen seiner Bestimmung fortgepflanzt. Und eben dieser Hanswalter beginnt nun ein Verhältnis mit Hortenses Tochter. Die unglückliche Geschichte Jürg Reinharts droht sich zu wiederholen: »Es gibt keinen Anfang, kein Ende. Alles wiederholt sich, nichts kehrt uns wieder …«236

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