Читать книгу Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991 онлайн

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Frisch schrieb diesen Brief als siebenundzwanzigjähriger Mann und als Bürger einer Stadt, die zum Exilzentrum des antinazistischen, deutschsprachigen Geistes geworden war. Als Jugendtorheit ist er nicht abzutun. Er lag im Geist der Zeit, und der Schweizerische Schriftstellerverband, der Schweizer Pen-Club, Faesi, Korrodi, Staiger u.a.m. vertraten dieselben fragwürdigen Positionen.140

Rabinovitch reagierte auf Frischs Anwürfe übrigens souverän. Im Nebelspalter Nr. 46 von 1938 veröffentlichte er eine Karikatur gegen jede Form der Zensur. Ein kleiner Hofnarr mit den Zügen Rabinovitchs kopiert ein grimmiges Hitlerporträt. Die Kopie zeigt einen lächelnden Hitler. Bundesrat Motta, der Außenminister, blickt dem Narren über die Schulter und mahnt: »Bitte noch ein klein wenig liebenswürdiger«.


Karikatur von Gregor Rabinovitch im Nebelspalter.

Kultur und Politik

Der wichtigste der vier Texte, die Frisch vom Herbst 1937 bis zum Herbst 1939 veröffentlichte, ist der Aufsatz Ist Kultur eine Privatsache? Grundsätzliches zur Schauspielhausfrage (Zürcher Student, Juni 1938). Er ist allerdings nur im historischen Kontext verständlich. Nach dem »Anschluß« Österreichs rechneten viele Schweizer ebenfalls mit dem Einmarsch der Deutschen. Im Juni 1938 gab Ferdinand Rieser, der Besitzer der Pfauenbühne, sein Theater auf, um nach Paris, später in die USA zu emigrieren. Man hatte ihm, dem Antifaschisten, Juden und Ehemann der Schwester Franz Werfels, zu verstehen gegeben, daß er bei einem Einmarsch vor den Nazis nicht zu schützen sein werde. Rieser hatte, wie erwähnt, das Schauspielhaus seit 1926 als Privatunternehmen geführt und seit 1933 zum Zentrum des deutschsprachigen Exiltheaters ausgebaut. Er, und nicht erst sein legendärer Nachfolger Oskar Wälterlin, engagierte erstklassige Kräfte wie Therese Giehse, Wolfgang Langhoff, Maria Becker, Wolfgang Heinz, Teo Otto, Kurt Horwitz, Karl Paryla, Emil Stöhr, Ernst Ginsberg, Mathilde Danegger, Kurt Hirschfeld und viele andere mehr. Dieses Ensemble, auf welches Zürich heute noch stolz ist, wurde damals allerdings als »jüdisch-bolschewikisches Emigrantentheater« nicht nur von den Frontisten heftig angefeindet. Anstoß erregte auch Riesers Spielplan. Zwar brachte er viel Boulevardtheater, doch da jede Woche (!), später alle zehn Tage ein neues Stück Premiere hatte, kam zwischen 1933 und 1938 so ziemlich das gesamte europäische Theaterrepertoire zur Aufführung – darunter manche Stücke, die in Deutschland und seit dem »Anschluß« auch in Österreich verboten waren. Rieser, ein tüchtiger Geschäftsmann, bewies großen politischen Mut und antifaschistische Standfestigkeit gegen massive in- und ausländische Pressionen, als er seine Bühne vielen emigrierten antifaschistischen Dramatikern öffnete, z.B. Bruckner, Kaiser, Toller, Wolf, Broch, Lasker-Schüler, Horvath und Čapek. In den fünf Jahren von 1933 bis 1938 spielte er 19 Stücke von Exilautoren, darunter viele Uraufführungen141 . Riesers Weggang stellte die Existenz des Schauspielhauses ernsthaft in Frage. Die Stadt zeigte wenig Interesse, das Haus zu übernehmen. Das Parlament verwarf einen Antrag auf 150 000 Franken Unterstützung, nachdem es drei Tage zuvor 340 000 Franken für die Errichtung einer öffentlichen Bedürfnisanstalt bewilligt hatte. Mancher Patriot empfand ein stärkeres Bedürfnis nach Hygiene als nach einem unbequemen Theater. Monatelang stand das einmalige Ensemble vor dem Nichts und rüstete sich auf eine weitere Flucht vor der drohenden »Ausschaffung« ins Reich.

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