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So wirkt die oberste Stufe aller Einschliessungen, das Gefängnis, als regulativ-organisatorisches Prinzip auf alle unteren Stufen zurück, und so ist das Gefängnis nur die letzte Sprosse einer Leiter, nur ein Glied aus der Serie verwandter Institutionen und also nicht qualitativ verschieden von Kasernen, Heimen, Asylen, Schulen. Gefängnis als verschärfte Schule, Schule als gemildertes Gefängnis. Die Schraube kann beliebig angezogen werden, fast übergangslos mündet eine Institution in die andere, je nach Fügsamkeit oder Widerborstigkeit des zu dressierenden Erziehungsobjekts. (Wer je in einem Internat lebte, hat das besonders deutlich gespürt.) Hier liegt das Verdienst von Michel Foucault: er hat das Gefängnis historisch begriffen, nicht nur punktuell als einen isolierten Skandal, den man mit gutem Willen und ein bisschen Reformeifer abschaffen könnte, und schon ist die Gesellschaft wieder in Ordnung. Foucault denkt diachron durch fünf Jahrhunderte, und zugleich denkt er synchron im Kontext der Institutionen. Deshalb ist er auch kein oberflächlicher Reformist, der ein paar kosmetische Verschönerungen am Gefängniswesen anbringen möchte. Denn was nützt es, wenn die Gefängnisse in ihrer heutigen, relativ brutalen Form verschwänden und trotzdem in andern Institutionen etwas subtilere, aber um so perfidere Formen der Einschliessung und des «esprit carcéral» ins Kraut schiessen? Diese Überlegung hindert ihn übrigens nicht daran, sich heftig im Kampf gegen das französische Gefängnissystem zu engagieren, er arbeitet und agitiert in der «Groupe d'information sur les prisons» (gip), welche Bewegung vor allem darauf abzielt, den Gefangenen wieder zu jener Sprache zu verhelfen, die es ihnen im Gefängnis verschlagen hat. Die Sprache der Gefangenen aber heisst Revolte, bekanntlich. Debout, les damnés de la terre! Foucault will nicht die Interessen der Gefangenen vertreten, aber er freut sich, wenn die Gefangenen ihre eigenen Interessen vertreten.* * Foucault: «Was die Intellektuellen unter dem Druck der jüngsten Ereignisse entdeckt haben, ist dies, dass die Massen sie gar nicht brauchen, um verstehen zu können; sie haben ein vollkommenes, klares und viel besseres Wissen als die Intellektuellen; und sie können es sehr gut aussprechen. Aber es gibt ein Machtsystem, das ihr Sprechen und ihr Wissen blockiert, verbietet und schwächt. Ein Machtsystem, das nicht nur in den höheren Zensurinstanzen besteht, sondern das ganze Netz der Gesellschaft sehr tief und subtil durchdringt. Die Intellektuellen sind selbst Teil dieses Machtsystems; die Vorstellung, dass sie Agenten des ‹Bewusstseins› und des Diskurses sind, gehört zu diesem System. Heute kommt es dem Intellektuellen aber nicht mehr zu, sich an die Spitze oder an die Seite aller zu stellen, um deren stumme Wahrheit auszusprechen. Vielmehr hat er dort gegen die Macht zu kämpfen, wo er gleichzeitig deren Objekt und deren Instrument ist: in der Ordnung des ‹Wissens›, des ‹Bewusstseins›, des ‹Diskurses›.» Das geschieht in Frankreich (und vielleicht auch anderswo) immer dann, wenn die Gefangenen ihre Wärter einschliessen und auf die Dächer steigen. Dann gibt es jeweils Reformen, die es vorher trotz allen Eingaben, Petitionen und Resolutionen nicht gegeben hat.

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