Читать книгу Ein Bruder lebenslänglich. Vom Leben mit einem behinderten Geschwister онлайн

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Bei unserer grossen Familie gab es immer durchgelaufene Schuhsohlen, die zum Flicken gebracht werden mussten. Der Besuch in der Werkstatt des Schuhmachers ganz in der Nähe war für uns Kinder ein besonderes Erlebnis. Beim Eintreten in das ebenerdige Lokal mussten sich die Augen zuerst an die Dunkelheit gewöhnen. Der Schuhmacher, ein älterer bärtiger Mann, sass auf einem kleinen Stühlchen auf einem etwas erhöhten Podest vorne am einzigen Fenster, durch welches ein wenig Tageslicht in den Raum gelangte. Über seinem Arbeitstisch brannte immer eine lose Glühbirne. Es roch nach Leim und Leder und überall am Boden lagen kleine Leder- und Gummireste herum. Wenn der Schuhmacher gerade an einer kniffeligen Arbeit war, die er nicht unterbrechen konnte, so vergnügten wir uns in der Werkstatt. Wir sammelten Leder- und Gummi­reste ein, die wir dann «heimlich» in unsere Taschen steckten. Der Schuhmacher liess uns gewähren. Er sprach kaum ein Wort mit uns. Es schien mir aber, dass er uns Kinder nicht ungern um sich hatte. Wenn er mit seiner Arbeit fertig war, so stemmte er sich mühsam von seinem kleinen Hocker hoch, holte mit schlurfenden Schritten unsere Schuhe von dem Gestell und erklärte uns dann, dass es leider nicht mehr möglich war, nur ein Schuheisen einzuschlagen, sondern dass der Absatz oder die ganze Sohle ersetzt werden musste. Ich habe den Eindruck, dass er von uns dafür einen sehr moderaten Preis verlangte. Besonders freundlich zeigte er sich immer unserem Bruder gegenüber. Später erfuhr ich, dass der Schuhmacher gerade über der Werkstatt seine Wohnung hatte und dort sein inzwischen erwachsener schwerstbehinderter Sohn tagein und tagaus in seinem Gitterbett dahinvegetierte.

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