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Beginn der Kanonisierung: erste Retrospektive in der DDR und der UdSSR

Diese Festigung seiner Stellung künstlerisch wie politisch wurde bekrönt von einer ersten umfassenden Retrospektive, die Wolfgang Hütt gemeinsam mit dem Rostocker Kunsthistoriker Hermann Raum (1924–2010) anlässlich von Sittes 50. Geburtstag vorbereitete. Sie fand vom 25. Juli bis 12. September 1971 in allen damals verfügbaren Räumen der Moritzburg statt ssss1. Hierfür wurde die Sammlungspräsentation vollumfänglich ins Depot verbracht, selbst die Gotischen Gewölbe im Untergeschoss des Westflügels, wo die mittelalterliche Schnitzkunst ihren Platz hatte, wurden beräumt. Im Neuen Deutschland wurde vermeldet, dass die Ausstellung „mit Werken aus der Zeit von 1940 bis zur Gegenwart einen gelungenen Querschnitt seines Schaffens [gibt]. 130 Gemälde sowie fast 200 Handzeichnungen und andere grafische Blätter werden gezeigt, von denen ein beträchtlicher Teil zum erstenmal [sic!] ausgestellt ist.“59 Besonders aufschlussreich ist ein weiterer im Neuen Deutschland erschienener Artikel von Ingrid Schulze (1929–2009), der mit dem heutigen historischen Abstand erkennen lässt, wie schwierig es zu dieser Zeit noch war, das gesamte Œuvre Willi Sittes, also auch seine als „formalistisch“ kritisierten Arbeiten, anzuerkennen und in die Kanonisierung aufzunehmen. Zunächst würdigte Ingrid Schulze die Schau als „ein künstlerisches Ereignis. Dadurch, daß sämtliche Phasen des von Konflikten und inneren Kämpfen keineswegs freien Werdeganges von Sitte durch charakteristische Werke vertreten sind, wird das ungeheure Maß an geistiger Arbeit deutlich, das der Hallenser Maler und Grafiker leisten mußte, bevor er in seinen Arbeiten der letzten Jahre die sozialistischen Entwicklungsprozesse in ihrer Vielschichtigkeit erfassen konnte.“60 Um die der Moderne verpflichteten Werke der 1950er Jahre rechtfertigen zu können, konstatierte sie, dass „uns das nach wie vor enthaltene gesellschaftskritische Moment zumeist in einem zeitlos anmutenden mythologischen Gewand entgegen[tritt]“. Hinsichtlich des Gemäldes Bergung II ssss1 sieht sie gar „Erinnerungen an die italienische Malerei des fortgeschrittenen 16. Jahrhunderts an[klingen], […], in dem manieristische Gestaltungselemente und der beginnende Einfluß Picassos eine Einheit bilden.“ Das Völkerschlacht-Gemälde ssss1 f, das Ende der 1950er Jahre kritisiert und als historisch unkorrekt abgelehnt wurde, stellt für sie nun „einen Höhepunkt sozialistisch-realistischer Historienmalerei dar“. Ferner spricht sie von „einem wahrhaft gigantischen Ringen“ Sittes, das zu Beginn der 1960er Jahre Früchte trug, denn „[i]n dem Maße, wie sich in der Folgezeit die Beziehungen Sittes zur sozialistischen Wirklichkeit festigten und vertieften […] gewann die antiimperialistische Aussage an gesellschaftlicher Konkretheit.“ Schließlich resümierte sie: „Charakteristisch für dieses Werk ist die innere Einheit von revolutionären Traditionen und Neuerertum, ein bestimmender Wesenszug des von Sitte umfassend gestalteten sozialistischen Menschenbildes.“ Damit ist Willi Sitte zum Zeitpunkt des Wechsels in der Führung des Staates von Walter Ulbricht zu Erich Honecker (1912–1994) durch das Wirken ihm wohlgesonnener Kunsthistoriker und Parteifunktionäre final legitimiert und kanonisiert.61 Die bis dahin umfangreichste und repräsentativste Sammlung seines Schaffens hatte das Kunstmuseum in der halleschen Moritzburg in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten aufgebaut. Sie umfasste zu diesem Zeitpunkt 12 Gemälde.

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