Читать книгу Kindheit in der Schweiz. Erinnerungen онлайн
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«Was ist das, Vater?», fragten wir.
«Wir müssen sehen, dass keine anderen Arbeiter in die Fabrik hineingehen. Wir wollen mehr Lohn, damit wir euch Schuhe kaufen können, wenn der Winter kommt.»
Das leuchtete mir ein. Den ganzen Sommer trug ich keine Schuhe, und wenn der erste Schnee fiel, rannte ich meist barfuss von der Schule heim. Ein paar Tage konnte ich dann nicht in die Schule. Meine Mutter musste mir zuerst ein Paar Schuhe kaufen. Die taten immer sehr weh, und meine Füsse schwollen an. Wenn der Frühling kam, waren die Schuhe schon durchlöchert. Die Streikenden forderten den Neunstundentag und wollten zwei Rappen mehr Stundenlohn. Das hätte gerade einen Liter mehr Milch im Tag gegeben. Achtzehn Rappen mussten wir den Bauern bezahlen. Mein Vater verdiente damals zwei Franken fünfundsiebzig im Tag. Die Fabrikherren wollten aber den Lohn nicht erhöhen, darum traten die Arbeiter in den Streik.
Der grösste Teil der Belegschaft ging nicht arbeiten. Streikposten standen schon frühmorgens vor dem Fabriktor von «Schäppi-Schweizer». Wenn einer doch hinein wollte, wurde ihm der Weg versperrt. Wenig später streikten auch die Arbeiter der Automobilfabrik «Arbenz», die nur einige Meter von uns entfernt war. Die Polizei kontrollierte die Strasse. Erst da erfuhren wir, dass unsere Strasse eine Privatstrasse sei, und wer nichts zu tun hatte dort, durfte weder stehenbleiben noch durchfahren. So wurde unserem Bäcker verboten, mit seinem Wagen vor unsere Häuser zu fahren. Erst als wir an jenem Tag kein Brot bekamen, hörten wir von dieser Massnahme der Fabrikleitung. In der Nähe des Restaurants «Hubertus» holten wir dann das Brot ab. Bei «Arbenz» wurden Streikbrecher eingesetzt. Die riefen Emmy und mich manchmal zu sich. Wir mussten für sie Bier und Cervelats holen und bekamen einen Fünfer dafür. Eines Tages kam ein Korporal und sagte: «Kinder, streikt euer Vater auch?» – «Ja», antworteten wir. «Dann müsst ihr für diese Männer kein Bier holen, das sind Streikbrecher, die sind gegen euren Vater.» Von da an mussten sie ihr Bier selber holen. Der Korporal war, wie ich Jahre danach erfuhr, Jacques Schmid, der spätere sozialdemokratische Regierungsrat von Solothurn.