Читать книгу Der Stammbaum. Chronik einer Tessiner Familie онлайн

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Sie haben den Wald abgeholzt, haben jeden Strauch weggeschnitten, der steile Abhang ist ganz kahl. Auch die Reben haben sie bis zur Höhe, die das Wasser erreichen soll, ausgestockt. Übrig geblieben sind die von Mäuerchen gestützten nackten kleinen Felder, über die unschuldiges Gras wächst. Aber niemand wird dieses Gras mehr mähen, keine Wöchnerin wird mehr auf allen vieren herauskriechen, um jene Handvoll Gras auszuraufen, das sie kochen muss, um nicht Hungers zu sterben.

Über dem Wasserstand werfen die Reblauben noch Schatten. Man sieht die kräftigen blauen Schosse (sie sind schon mit Grünspan gespritzt worden), und sie schaukeln im leichten Wind. Und auch droben auf der steilen Anhöhe, wo der Wald noch Raum lässt, sieht man Rebland. Und zwischen jenen Kastanien steht eine Kapelle (ich sehe sie nicht, aber ich weiss, dass sie dort steht), die den Namen meiner Vorfahren trägt und die naiven Gestalten der Heiligen, die ihnen jenes elende Dasein ertragen halfen.

Zwischen dem Brombeergesträuch flitzt vielleicht eine Smaragdeidechse oder eine Viper, grau auf grauer Erde, und dehnt sich träge an der Sonne auf dem Trockenmäuerchen. Man sieht niemanden, nicht eine Seele zwischen den Ställen, wo der Holunder die weissen Flecken seiner Schirmchen ausbreitet. Alles schweigt. Nur ab und zu hört man ein kreischendes Geräusch (sie fällen die Bäume mit jenen Motorsägen, die so grell tönen), und das rhythmische Schluchzen eines verspäteten Kuckucks. Und wenn man die Ohren spitzt, hört man das ferne Getöse der Arbeit am Staudamm, jener hellen Mauer dort unten. In der Höhe segeln am Junihimmel weisse Wolken schweigend dahin. Und schweigend steigt auch das mitleidlose Wasser. Es überflutet, tilgt und verschlingt alles, das leere Gehäuse der Schnecke, die Schlangenhaut und den Stall, wo, verlassener und einsamer als die Muttergottes, vor mehr als einem Jahrhundert meine Grossmutter meine Mutter zur Welt brachte.

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