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Der Prinz

Die alte Frau dachte, der Bahnhof gliche einer Kathedrale oder einem Theater, einem Ort jedenfalls, in dem Rituale gefeiert werden. Sie wusste, dass der Bahnhof jeden Morgen gereinigt wurde, doch jetzt war er schmutzig. Sie ging durch den dunklen, kalten Korridor zur Schalterhalle; ein weißblonder Junge trat aus der Herrentoilette mit einer Zahnbürs­te in der Hand und lächelte sie an – er lächelte wie jemand, der sich vorgenommen hat, einen bestimmten Menschen aus einem bestimmten Grund anzulächeln. Der Junge glich Jonas, ihrem Sohn. Sie hatte den Brief, in dem sie Jonas ihre Ankunft angekündigt hatte, vorgestern in einen Briefkasten in ihrer Straße geworfen. Dort stand, eng an den Kasten gedrückt, ein verwahrlost aussehendes Mädchen. Etwas barsch hatte die alte Frau um Entschuldigung gebeten – nicht, weil es nötig gewesen wäre, dass das Mädchen zur Seite rückte; es war klein, und sie hätte den Brief auch so, über seine Schulter hinweg, einwerfen können, aber sie war misstrauisch und ärgerlich: Was hatte das unglückliche Geschöpf zu kontrollie­ren? Als die alte Frau dann wegging, drehte sie sich zweimal um und beobachtete das Verhalten des Mädchens, argwöhn­te, es würde den Brief vernichten, indem es ein brennendes Zündholz in den Schlitz warf. Herausziehen hätte es ihn mit seinen dicken Fingern nicht können. (Sie vermutete, dass die Finger des jungen Mädchens dick waren; angeschaut hatte sie sie nicht.) Das sonderbare Ding stand wieder nah beim Kasten, ohne sich zu rühren; die alte Frau blieb den ganzen Tag unruhig und machte sich Vorwürfe, dass sie den Brief nicht einige Straßen weiter in einen andern Kasten einge­worfen oder dass sie nicht telefoniert hatte. Aber sie telefo­nierte ungern, hatte Angst vor Wörtern, die aus weiter Ferne direkt ins Ohr hineingesagt wurden.

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