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Die Prinzessin

Vera wohnte seit einem Jahr in einem winzigen, weißen Haus an der Küste; vor ihr war nur der Himmel – ein kleines, totes Blau am Tag, ein Sammetbeutel voll goldener Kugeln in der Nacht – und das Meer; sie deckten die Vergangenheiten, die Vera mit stundenlangem Gekritzel hervorlocken wollte, zu wie Schatten von Riesen.

Veras kleine Tochter trat ins Haus, setzte sich, nachdem sie drei oder vier Butterbote verzehrt hatte, an den Tisch und verfertigte eine ihrer unzähligen Zeichnungen: Am Himmel rollten zwei Sonnen, im Gras stapften eine dickbäuchige, kahle Prinzessin und ein Zwerg.

Vera hatte Kindern gegenüber immer Unbehagen empfunden; bevor sie selber Mutter wurde, konnte sie die kleinen Geschöpfe nicht an sich drücken wie andere Frauen, sowenig wie sie es über sich brachte, ein Tier zu kraulen; das fremde, ungewohnt riechende Fleisch flößte ihr Abscheu ein. Sie verstand es noch heute nicht, mit Kindern zu scherzen; sie fand sie frech und unberechenbar, und ihr Übermut erschreckte sie. Sie fühlte sich ihnen unterlegen wie damals, als sie als sechsjähriges Mädchen zum ersten Mal ins Schulzimmer getreten war und die vielen schrecklichen Wesen gesehen hatte, die so laut und herausfordernd und grausam waren und deren Freuden und Leiden sie nicht teilen konnte. Sie war das einzige Kind ihrer Mutter gewesen und liebte nur ihre eigenen Freuden und Leiden; sie waren bedeutsam; vertraut und fein wie das Glück und die Schmerzen der Gräfinnen in den Romanen ihrer Mutter. Das Lachen der Schulkameradinnen fand sie roh, ihr Weinen peinlich, ihre Hände und Füße hässlich. Das Mädchen, das neben ihr in der Bank gesessen war, hatte an der rechten Hand nur vier Finger besessen; jede Berührung dieses Kindes hatte ihr Gänsehaut verursacht.

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