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Wenn ich einige Zeit später im Bett lag und das Licht schnell ausknipste, da ich plötzlich gerne Abschied nahm von dem allzu Sichtbaren, Vordergründigen, von den störenden, ablenkenden, zu offensichtlich konstruierten, zu zweckbe­wussten Dingen, ließ ich mich fallen – ich fiel Stunde um Stunde zurück und wurde immer wacher dabei; Farben und Düfte erregten mich, die ich nie bewusst wahrgenommen hatte, und dabei wusste ich, dass ich mit den Augen Rolfs sah und mit seiner Nase roch und dass er mich schon längst durchschaut hatte und sich nur stumm und steif stellte, um mich nicht zu erschrecken. Dann nahm ich mir vor, ihn das nächste Mal im Restaurant der Kunsteisbahn, wo er vor einem Teller Pommes frites und einem Glas Coca saß, oder auf der Traminsel anzusprechen.

Manchmal gebärdet sich der Oktober, als sei er ein Bote des Frühlings; er lässt den Föhn tanzen und Rosawolken über den Himmel streuen, dann werden die Menschen unruhig, küssen zur Unzeit den Falschen oder stürzen sich von einer Brücke; manche verunglücken aus lauter Verwirrung oder zünden ein Haus an. An einem solchen Tag bin ich immer auf der Hut und bemühe mich, am Morgen nicht unbändig zu lachen, sonst weine ich am Abend. Damals ging Rolf vorbei, und da fiel mir ein, dass ich mir vorgenommen hatte, ihn an­zusprechen. Ich wollte ihm sagen, er sei anders als die gewöhnlichen Jungen, wie auch ich mich als besonderes Mädchen fühlte, das von niemandem verstanden wurde. Meine Schulkameradinnen zogen übermütige Buben den stillen, braven Schülern vor; mich aber interessierte Rolf, weil er mir geheimnisvoll schien. Ich ärgerte mich, weil ich eine ziemlich altmodische Windjacke trug, die meiner älteren Schwester gehört hatte, doch dann trat ich ihm in den Weg. Seine Nase war vom Wind gerötet, seine moosfarbenen Pupillen sahen durch mich hindurch. Ich grüßte hastig, verzog meine plötzlich starren Lippen zu einem Lächeln, drehte mich um, hinkte an seine Seite und bliebt dort plappernd, schnaufend und immer verlegener werdend, denn er schritt weiterhin wacker aus, ohne zu nicken oder mich wegzujagen oder auch nur anzusehen. Er hatte Brot eingekauft, das in ein weißes Papier gewickelt war, und trug das gleiche schäbige Jäckchen wie immer. Seine von Ballett und Eislauf stark gewordenen Beine steckten in zu großen Schuhen. Was hatte ich eben zu ihm ge­sagt? Ich wusste es nicht mehr, nahm aber an, ich hätte mich vorgestellt mit Namen, Alter, Klasse, Beruf des Vaters, Adresse und Referenzen, wie es sich gehörte. Wir waren doch keine kleinen Kinder mehr, die im Park Fangen spielten und nach zwei oder drei Stunden begeistert auseinandergingen, ohne den Namen des Spielkameraden erfragt zu haben. Kleine Kinder interessieren sich für Nebensächlichkeiten wie Namen, Beruf des Vaters, Wohnquartier und Schultyp nicht; es ist ihnen gleichgültig, aus welchem Milieu ihre Spielge­fährten stammen; nur den Menschen an sich stellen sie auf die Probe und fällen über ihn ein Urteil, das nicht gültig bleiben muss.

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